Sehr geehrte Damen und Herren,
in folgenden wenigen Minuten möchte ich Sie auf einige interessante Aspekte des Bach-Spiels auf dem modernen Klavier im ausgehenden Jahrhundert aufmerksam machen. Ich weiss zwar, dass in etlichen Kreisen der “Radikal-Authentiker” gilt schon die Idee, auf dem heutigen Klavier Bach zu spielen hätte eine Zukunft, als ketzerisch. Am liebsten möchten sie jeden Versuch, den heutigen Entwicklungstand der Musikinstrumente zu reflektieren und auf diese Art einer, sogar vor mehr als 200 Jahre entstandenen Komposition eine aufrichtig nacherlebte Authentizität zu verleihen, verbieten.
Nun was die heutige massenartige Gestaltung unseres Johann Sebastians beispielsweise auf den Schulen und in den Kreisen der noch immer existierender musizierender Liebhaber anbelangt, würde das eine kleine Revolution bedeuten. Die Musikschulen und einfachen Menschen weltweit werden noch lange nicht so viel Geld haben, um sich ein gutes Cembalo leisten zu können. /In Osteuropa betrifft das leider schon auch die billigsten Pianinos./ Aber auch auf den Konzertpodien in ganzer Europa und der Welt, trotz der mächtigen Bewegung der Historisierenden, konnten viele grosse und weniger grosse Pianisten einfach nicht aufhören, Bach zu spielen. Ich erwarte und hoffe, dass sie damit auch in der Zukunft nicht aufhören.
Andererseits ist es eine Tatsache, dass gerade auf dem heutigen Klavier eine einigermassen zufriedenstellende, stilgerechte und sozusagen “authentische” Bach-Interpretation zu erreichen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Klavierkunst. Man muss eine oft ungeheuer komplizierte Polyphonie mit zwei Händen und einem Kopf transparent vermitteln, das Tempo streng halten und trotzdem nicht wie eine Maschine spielen, eine schöne Kantabilität mit dem barocken Motorismus zu vereinen, auf die Artikulation und die Ausgestaltung von grossen Linien gleichermassen achten, möglichst viel legato spielen und die Benützung des Pedals doch nicht übertreiben, die Phrasen schön atmen lassen und doch nicht wie ein Chopin-Nocturne vortragen, kleinere und grössere feine dynamische Ubergänge und die Terassendynamik ebenso gelten lassen… Es ist zweifellos eine ungeheure Menge Notwendigkeiten, auf die ein künftiger Bach-Klavierspieler acht geben muss und deshalb bewundert es nicht, wenn die Töne von J.S.Bach auf den Klavierabenden unseres Jahrhunderts doch nicht so häufig erklangen, wie die von Beethoven, Schumann oder Debussy.
Ich will im folgenden also nicht darauf eingehen, warum man auf dem heutigen Klavier Bach spielen sollte oder nicht, was es für die Vor- oder Nachteile gibt, was nun Bach selber davon halten würde usw. Uber diesen Themen wurde schon eben genügend gesagt und geschrieben. Ich zeige lieber einige glänzende Beispiele der hochauthentischen Bach-Interpretation im 20.Jahrhundert auf. Damit die ganze Sache interessanter wird und Sie die Gemeinsamkeiten und Originalitäten der vorliegenden interpretatorischen Auffassungen erfassen können, habe ich mich für den Interpretationsvergleich entschieden. Es geht um vier verschiedene /oder auch nicht allzusehr verschiedene/ Zugänge zur Chromatischen Fantasie und Fuge, zu einem der anspruchvollsten und schwerwiegendsten aller Bachschen Werke für besaitete Tasteninstrumente. Vier grosse Pianisten haben es im Lauf unseres Jahrhunderts neben anderen eingespielt, vier Auffassungen werde ich Ihnen in folgenden wenigen Minuten sehr kurz vermitteln. Erstens der legendäre Edwin Fischer, wahrscheinlich der deutsche Pianist des Jahrhunderts, dessen Aufnahme aus dem Jahre 1935 stammt und die den Kritiken-Star Joachim Kaiser zu diesen Worten veranlasste: “Edwin Fischers ekstatische Reinheit, die Magie seiner Ubergänge, seiner langsamen Crescendi, wird mittlerweile so geschätzt und gewürdigt wie zu Fischers grösster Zeit, als ihm 45Jährig die nach wie vor herzbewegendste, kühnste und schönste Schalplatteninterpretation der Chromatischen Fantasie und Fuge von Bach gelang, die je eingespielt wurde.” Diese Aufname wirklich ergreift und bezaubert nicht nur mit den erwähnten langen dynamischen Ubergängen, sondern auch mit vielen klanglichen Feinsinnigkeiten, mit äusserst vorsichtig dosierter Agogik, mit grossen Kontrasten in der Fantasie, aber hauptsächlich mit einer unnachahmlicher Poetisierung der Bachschen Musiksprache, die jedoch in keinen Konflikt mit der gebotenen stilistischen Strenge tritt. /Die Beispiele hören wir am Ende meines Referats./
Zweitens der nicht wenig legendäre Klavierenzyklopedist Claudio Arrau, ähnlich wie Edwin Fischer ein Schüler von Martin Krause in Berlin. Arrau geht aber in diesem Fall gewissermassen andere Wege. Bei wesentlich höherer dynamischen Grundstufe, einem nüchternem Ton und so gut wie keinen agogischen Eingriffen betreibt er ein höchst diszipliniertes, realistisches, aber nicht weniger vertieftes Bach-Ideal; man würde schon über “historisierender” Interrpetation sprechen, wenn dies nur nicht am Klavier geschähe. Arrau verwendet minimale dynamische Schattierungen und fast kein Pedal, dafür eine sehr expressive Deklamation im Recitativoteil der Fantasie. So wird sein Bach-Bild nicht gerade klavier-, dafür mit Sicherheit stilgerecht und dank seiner intellektuellen Kraft und motorischer Impulsivität auch betörend. Arraus Aufnahme entstand im Jahre 1945.
Drittens der grundsätzlich auch schon legendäre, obwohl noch lebende Osterreicher Alfred Brendel, ein Schüler unter anderem auch E.Fischers, dem nach eigenen Worten es sehr lange dauerte, bis er aus dem Bann seines Lehrers brechen und zu Bach wagen konnte. Dass es dem unglaublich selbstkritischen und ehrlichen Brendel mehr als erfolgreich gelang, bezeugt seine Einspielung der Chromatischen Fantasie und Fuge aus 1976. Er erscheint als äusserst disziplinierter, jedoch fantasievoller Architekt mit grossartig gestalteten Linien; er schafft die Synthese von Logik und Freiheit, vom sensiblen Klang und vollkommen transparenter Polyphonie. Einerseits verzichtet er beinahe völlig auf die Agogik /es gilt natürlich nicht für den Recitativoteil/, aber die Kombination von ganz kleinen, wie auch ganz grossen dynamischen Ubergängen und der Terassendynamik wirkt faszinierend. Ausserdem kümmert Brendel auch um die Artikulation und mit Feinsinn wechselt er das Legato und Non-legato.
Und viertens eine Dame aus der ehemaligen Sowjetunion, eine wirkliche Bach-Spezialistin, Tatiana Nikolajewa. Sie ist ein lebendiges Beispiel für die Unhaltbarkeit verschiedener starrer, lehrbuchartiger Interpretentypologien. Nehmen wir nun die drei Interpretationsmodi von Hermann Danuser, die historisierende, traditionelle und aktualisierende Interpretation – welche gilt eigentlich für Nikoljewa? Ihre Wiedergabe verkörpert die besten Traditionen der russischen, angeblich “romantisierenden” Klavierschule – aber er aktualisiert auch, lässt doch Bach auf dem modernen Flügel mittels Gefühlen des heutigen Menschen für ihn slebst anklingen. Nikolajewas Interpretation aus dem Jahre 1982 vereint eine minuziöse Artikulation und restlos miterlebte Polyphonie mit klanglicher Wärme und höchstsensibel dosierter Mikrodynamik, wie es nur die russischen Klavierpoeten wissen. Die Gestaltung der Fantasie gelang ihr dabei am dramatischsten. Ihr Bach ist klaviergemäss, expressiv, atmend und singend – und irgendwo auch authentisch.
Nun sollten wir noch kurz anschauen, worin diese Interpretationen auch übereinstimmen. Es gibt einige Selbstverständlichkeiten des Bach-Spiels, gegen sie keiner der vier Künstler verstossen hat. Erwähnen wir das gleichmässige und mit Ausnahme von Brendel keine grundsätzlichen individuellen Unterschiede aufweisende Tempo, die ganz geringe Agogik in der Fuge, die improvisatorische Spontaneität in der Fantasie, die durchwegs deutliche Polyphonie, die Vermeidung der extremen Lautstärke. In der Fuge und dem Rezitativoteil haben alle eine grosse dynamische und Ausdruckskurve durchgemacht; die Fantasie schlossen und die Fuge begannen alle in piano, während die Fuge endete immer in forte oder fortissimo. Das Thema der Fuge wurde von allen in legato gespielt und mit ausdrucksvollem Feingefühl phrasiert.
Endlich sind wir zu den Beispielen gekommen. Es ist überaus schwierig, aus so komplizierter und komplexer Struktur dieses Werkes einen kleinen Abschnitt herausreissen und so die verschiedenen Interpretationen zu veranschaulichen versuchen. Zumal wenn in der Fuge hauptsächlich um die Vergegenwärtigung einer sukzessiven Makrostruktur geht. Trotzdem musste ich für einen kleinen Teil dieser Totalität entscheiden; sie kann schon einiges über den Ton, den Anschlag, die Pedalisierung , die Artikulation, die Handhabung der Dynamik und Agogik, das Tempo und die sogenannte expressive Atmosphäre aussagen. Wir hören jetzt ungefähr die Takte 114 bis 143 aus der Fuge und die verschiedenen Herangehensweisen unserer vier Pianisten an. Es handelt sich um das vorletzte Zwischenspiel und die letzte Durchführung mit Tendenz zur endgültigen Steigerung. /Ich muss gleichzeitig noch für die nicht immer optimale Qalität der Aufnahmen entschuldigen./
Also zuerst der “poetisierende Klassiker von gestern”, Edwin Fischer.
Nun der “nüchterne Universale”, Claudio Arrau.
Jetzt der “expressive Klassiker von heute”, Alfred Brendel.
Und schliesslich die “stilgerechte Romantikerin”, Tatiana Nikolajewa.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Tamás Horkay
Verzeichnis der Tonquellen /Chromatische Fantasie und Fuge d-moll, BWV 903/
Edwin Fischer – CD 33029/001-003 /Schallarchiv des Bayerischen Rundfunks/
Claudio Arrau – CD 5457/018 ebd.
Tatiana Nikolajewa – CD 15435/006 ebd.
Alfred Brendel – Alfred Brendel Collection CD 420 832, Phonogram Int.